Expeditionen Was Kunst im öffentlichen Raum suchen könnte

(von Dr. Johannes Stahl)

Der hr.fleischer e.V. nimmt in seinem Projekt »EXPEDITIONEN. Die Stadt als Aktionsraum« einmal mehr Bezug auf den Stadtraum und verlässt dafür seinen angestammten Kiosk.

Ein wenig sperrig ist das Wort Expeditionen ja schon. Denn heute ist das Unentdeckte rar geworden. Selbst Offensichtliches und Nebensächliches wird in Echtzeit getrackt und auf ewig gespeichert. Immerhin lockt die soziale, juristische oder kommerzielle Verwertbarkeit. Macht da das Bild von Forschern überhaupt noch Sinn, die unendliche Weiten suchen, eine terra incognita? Wenn man es genau bedenkt, ging es ihnen letztendlich auch um Verwertbarkeit.

Stadträume stehen heute mehr denn je im Blickpunkt. Immer mehr Menschen siedeln in Städten. Der kommerzielle Druck auf diese Zentren ist enorm gewachsen. Mieten für Wohnungen oder Geschäftsräume steigen in unbekannte Dimensionen. Geschäftsketten und Systemgastronomie verdrängen den Einzelhandel oder das individuelle Gasthaus. In der Folge gleichen sich die Erscheinungsbilder der Innenstädte zunehmend aneinander an. Zudem dominiert immer mehr Werbung jeglicher Art und vor allem immer effizientere Strategien der Reklame die Stadträume. Solche Vorgänge gleichen in frappierender Weise dem fortschreitenden Ausbeuten von Bodenschätzen.

Bleibt da Raum für künstlerische Exkursionen? Vor allem: wenn (werbe-) ökonomische Ansätze so viel Wert auf Verwertbarkeit legen, worauf könnten dann künstlerische Exkursionen aus sein? „Künstlerisch wertvoll“ – dieses Prädikat gibt es. Aber “künstlerisch verwertbar”: was könnte das sein? Und laufen im öffentlichen Raum künstlerische Aktionen oder Vorgehensweisen Gefahr, selbst “verwertbar” zu werden – in der Kreativwirtschaft etwa, im Städtemarketing?

Denkmal Vasili Macharadze »Denkmal zu Ehren von Bas Jan Ader«, Marktplatz Halle (Saale), 16. Juni 2019

In den letzten Jahrzehnten haben sich die Rolle und die Strategien von Kunst im öffentlichen Raum einschneidend gewandelt. Repräsentative Funktionen bestimmen bis heute weitgehend die Kunst am Bau. Partizipative Ideen für Kunst im öffentlichen Raum führen dagegen zunehmend zu temporären Formen. Vor allem Interventionen bestimmen die Szenarien, als skulpturale Form oder als Performance. Oftmals ist hier der Grad an öffentlichem Interesse oder gar Auftrag bewusst nicht genau definiert. Vielleicht erwartet man geradezu von Künstlerinnen und Künstlern das Sichtbarmachen gesellschaftlicher Fragen – und eventuell sogar das Lösen dieser Probleme. So gesehen sind Expeditionen eine durchaus vergleichbare Idee: es sollte etwas zu entdecken geben im Stadtraum. Aber man weiß vorab nicht genau, was das sein könnte. Zudem birgt ein solches Unternehmen allzu bekannte Gefahren, die den Stadtraum bereits kennzeichnen. Keiner möchte lediglich ein folgenloses Spektakel für die Freizeitindustrie produzieren; niemand hat die Absicht, Teile der Gesellschaft auszugrenzen. Beides schmeckt nach Statik, Exkursionen bewegen sich und ihre Teilnehmer.

Ein Blick auf die Ausrüstung des Projekts lohnt. Ein ehemaliges Schiff ist da bestimmt hilfreich – Expeditionen wurden zu allen Zeiten gerne mit Raumschiffen vollzogen. Für den variantenreichen Stadtraum ist ein angemessenes Multitool nötig. Es muss Bewegungs- und Sitzmöglichkeiten bieten, Schutzraum oder Podium sein, andock- und umbaufähig wie die ISS.

Kaffeefahrt »Eine Kaffeefahrt durch Halle« Von Sophie Baumgärtner und Sophia Wiest. Halle (Saale), 16. Juni 2019 / Foto: Matthias Behne

Letztendlich ist diese Forschung auch selbstreferenziell. Das klassische „Was sollten wir können? Was dürfen wir hoffen?“-Thema wird hier zu konkreten Fragen: Was vermögen Künstlerinnen und Künstler im Stadtraum zu sehen? Und was können sie dort bewerkstelligen?

 

Dieser Text von Dr. Johannes Stahl wurde zuerst in der Corax Programmzeitung Juni/Juli 2019 mit dem Titel „Platz da! Die Stadt Halle und ihre Freiräume“ veröffentlicht.

Dr. Johannes Stahl ist Kunsthistoriker in Köln. Sein langjähriges Engagement für Kunstvermittlung und Kunst im öffentlichen Raum führten ihn zur Beschäftigung mit Spaziergangswissenschaften. Mit Halle (Saale) verbindet ihn u.a. seine Tätigkeit als Landeskurator in Sachsen-Anhalt 1998/99, ein Engagement an der Burg Giebichenstein 2007-2010 und die langjährige Mitgliedschaft im Kunstbeirat des Landes. Er ist Mitglied im hr.fleischer e.V. und in der Akademie der Künste Sachsen-Anhalt.

 

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